Spotlight: Was ERASMUS ausmacht
 
Nachdem nun tatsächlich schon ein guter Teil meiner Zeit hier verstrichen ist und ich meine Erlebnisse und Beobachtungen allmählich sortiere, lade ich Dich hiermit zu einer ersten, vorläufigen Analyse der in einem Auslandssemester zu machenden Erfahrungen ein.
Insgesamt sehe ich die Spannung hier hauptsächlich dadurch entstehen, dass man praktisch noch einmal neu sozialisiert werden muss. Weniger psychologisierend: Man kommt hierher, und selbst wenn man wie ich schon passable Sprachkenntnisse mitbringt fühlt man sich zunächst wie ein Kind. Die abenteuerliche Art Bus zu fahren, die Mentalität, der Umgang mit Diebstählen, eine andere Kultur. Vieles ist von Grund auf neu zu lernen.
    Wie in psychologischen Lehrbüchern nachzulesen ist, funktioniert eine neue Sozialisation eigentlich nur in einem Zustand „existenzieller Verunsicherung“, das heißt die mitgebrachte Wirklichkeitskonstruktion, die Sicht auf die Welt und die vertrauten und bewährten Bewältigungsstrategien funktionieren nicht mehr. Hier bedeutet das z.B., dass man aus dem stützenden Familien- und Freundeskreis herausgerissen ist. Aber auch die individuellen Strategien und Ressourcen sind stark reduziert. In der anderen Kultur funktionieren die Umgangsformen anders, kaum jemand kann viel Musik oder vertraute Gegenstände mitbringen, die ebenfalls Halt geben könnten. Gleichzeitig fehlen auch noch die ganz banalen Informationen darüber, wo man welche Dinge kauft, was angemessene Preise sind, wo man Essen gehen kann, …
    Nachdem diese Verunsicherung ja Bedingung einer neuen Sozialisation, der echten Erfahrbarkeit des Neuen ist, ohne die Alles nur in die bekannten Erkenntnis- und Interpretationssysteme eingeordnet werden könnte, scheint diese Basis viel zu versprechen. Allerdings zeigt sich hier das Problem des Erasmus-Aufenthalts. Denn die Kultur, an die sich der verunsicherte Student jetzt klammert, ist nicht tatsächlich die Kultur des Landes, in das er gekommen ist. Es ist die Erasmus-Studenten-Subkultur, die ihn aufsaugt. Angefeuert von den einheimischen Studenten, die aus verschiedenen Gründen (siehe dazu www.neuerplan.org ;-) ) ebenfalls eine Art Weltflucht suchen, ergeben sich die berüchtigten Partys mit strömendem Alkohol. Davon begünstigt, aber auch selbst eine Art, Halt zu suchen, entwickeln sich die Partys zu regelrechten Partnerbörsen. Man kann diskutieren, wie viel auf der einen Seite ein einheimischer (Kurzzeit-)Partner für den Spracherwerb und den Kontakt zum Land bringt, und wie hoch auf der anderen Seite die emotionalen Kosten für diese Institution sind. Mein Urteil fällt eher negativ aus, auch angesichts der Tatsache dass die Partnerschaft sich zu einem großen Teil auf jenen Partys abspielt, einer eher lernfeindlichen Umgebung…
    Was kann man also besser machen? Eine erste Feststellung ist, dass die Angelegenheit viel einfacher ist, wenn sie in der Institution stattfindet, in der auch die erste Sozialisation passiert: Einer Familie. Hier ergibt sich von alleine ein Gleichgewicht aus Herausforderungen und Halt. Nachdem die Zeit dafür aber irgendwann vorbei ist (die selbe Zeit wie für Erasmus in einen Schüleraustausch investiert trägt sicherlich mit viel geringerem Aufwand Früchte) hilft das dem Studenten wenig.
    Bleibt nur, in diesem zu durchlaufenden Prozess eine aktive Rolle zu übernehmen. Sich bewusst zu sein, dass einem im Kern einige unangenehme Erfahrungen bevorstehen, und diesen weder auszuweichen noch sie umzudeuten. Wer flieht, sich betäubt (der klassische Weg) wird am Ende außer Geschlechtskrankheiten wenig mitnehmen (zugespitzt gesagt, wir sind ja aufgeklärt). Wer die Erfahrungen einfach so als positiv hinnimmt, steht dem notwendigen Lernen im Weg.
    Ich denke, es ist nicht zu viel behauptet, dass Auslandsaufenthalte, in denen man nicht an seiner eigenen, mitgebrachten Kultur festhält, eher im Nachhinein als in der Situation selbst schön sind. Es gibt natürlich immer auch viele schöne Erlebnismöglichkeiten. Allerdings sind diese nicht die, in denen es etwas zu lernen gibt, an denen man reifen und wachsen kann. Jeder Einzelne hat die Aufgabe, hier sein Gleichgewicht zu finden, um für die anstrengenden Erfahrungen Kraft zu schöpfen.
    Insgesamt könnte man in diesem Sinne den Erasmus-Aufenthalt eine Wanderung an den eigenen Grenzen nennen. Im Studentenalter sind diese Grenzen daheim eigentlich kaum noch zu finden, man hat sich gut eingerichtet und kommt zurecht, alle wichtigen Kompetenzen sind scheinbar gelernt. Die neue Umgebung zeigt uns, dass dies doch nicht so ist. Und am meisten bringen die Erfahrungen wahrscheinlich für den Umgang mit anderen neuen Situationen, sowohl im Ausland wie zu Hause.
    Um zum Schluss doch noch einmal etwas zu psychologisieren: Man erwirbt sich neben anderem als wichtigste Erfahrung vielleicht auch so etwas wie Meta-Kompetenzen, wissen darüber wie man sich neue Kompetenzen aneignet, wie man die Lernerfahrungen aus dem Ausland auch zu Hause erleben kann. Man erkennt so etwas wie ein Landkarte der eigenen Grenzen, die Fähigkeit, diese Grenzen bewusst aufzusuchen, um sie Stück für Stück zu erweitern.
    Und dieses Können rechtfertig vielleicht das Auslandsstudium gegenüber dem Schüleraustausch. Ein junger Mensch in einer ausländischen Familie lernt sicherlich viel leichter die andere Kultur kennen. Aber der fast erwachsene Student lernt etwas über das Lernen von Kultur, und über das Wesen von Kulturen in einem weiten Sinn.
Come si vive in Erasmus
Mittwoch, 24. Mai 2006